Europas Außengrenze - Ein Friedhof der Menschenrechte

Die geöffneten Grenzen der Türkei und Europas Antwort

Anfang März 2020 tauchten diverse Überschriften in europäischen Medien auf: „Erdogan lässt Flüchtlinge nach Europa weiterziehen“. Man sprach von zehntausenden Menschen, die sich auf dem Weg an die griechische Außengrenze machten. Erdogan wolle diese Menschen als Druckmittel auf Europa einsetzen, so berichteten die Medien über die „neue Migrationskrise“. Denn das von Anfang an scharf kritisierte Flüchtlingsabkommen zwischen Europa und der Türkei hätte anscheinend keine Wirkung mehr. 

Das 2016 in Kraft gesetzte Abkommen hatte es bis dato vorgesehen, dass die Türkei die Grenzen zu Europa schließen würde und somit den Grenzübertritt verhindern sollte. Im Gegenzug erhielt Erdogans Regierung in der Hauptstadt Ankara sechs Milliarden Euro von der Europäischen Union. Warum die Türkei die Grenzen auf einmal öffnete und Geflüchtete durch ließ, ist bis heute noch umstritten. Viele meinen, Erdogan wolle mehr Geld für die Türkei. Andere sagen, die Türkei möchte endlich in Verhandlungen zu dem Beitritt in die Europäische Union weiterkommen. Dass Erdogan Menschenleben als Druckmittel gegen die Europäische Union missbraucht, ist jedoch für alle klar.

Inmitten der Ereignisse um Erdogan und dem Rätseln über seine Beweggründe, sollte man nicht vergessen, den Blick auch auf die Reaktion der Europäischen Union zu richten. Diese ist nämlich genauso wichtig wie erschreckend.

Die aus der Türkei kommenden flüchtenden Menschen wurden an der europäischen Außengrenze mit Militär und Polizei konfrontiert. Grenzbeamt*innen in Griechenland versuchten mit aller Gewalt, Menschen am Grenzüberschritt zu verhindern. Tränengas und Rauchgranaten wurden und werden immer noch gegen ankommende Flüchtlinge eingesetzt. Aber nicht nur das: Es wird sogar auf sie geschossen. Den teils zu Tode erschöpften oder verletzten Menschen, die in kleinen Schlauchbooten vor der Küste ausharren, wird somit der Zutritt zu festem Boden und Sicherheit verweigert. Anstatt ihnen die Möglichkeit zu geben, an Land zu gehen, wird mit allen Mitteln versucht, sie abzuschrecken und die Zahl der Ankünfte zu minimieren.
Außerdem verabschiedete die griechische Regierung ein „Notfallgesetz“, in dem sie das Menschenrecht auf Asyl für einen Monat aussetzte. Man muss hierbei bedenken, dass Griechenland als Land mit EU-Außengrenze bereits überproportional hoch von Flucht und Migration betroffen ist. Das Land selbst wurde – wie zum Beispiel auch Italien – in den letzten Jahren von der EU komplett im Stich gelassen. Denn der Großteil der restlichen EU Länder weigert sich bis heute noch, ein gemeinsames europäisches Asylsystem auf Basis einer solidarischen Umverteilung zu errichten. Damit soll und kann die Reaktion Griechenlands jedoch nicht entschuldigt werden – denn sie ist ein schwerwiegender Verstoß gegen fundamentale Menschenrechte, sowie das internationale und europäische Asylrecht.

Auch die weiteren Ereignisse können nur mehr als beschämend bezeichnet werden. Kommissionspräsidentin Ursula Von der Leyen, welche gemeinsam mit David Sassoli, Präsident des Europäischen Parlamentes, sowie Charles Michel, Präsident des europäischen Rates, nach Griechenland reiste, fand in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem griechischen Außenminister Kyriakos Mitsotakis deutliche Worte: „Ich bedanke mich bei Griechenland dafür, dass sie unser Europäisches ασπίδα (Deutsch: Schild) in diesen Zeiten sind.“ Anstatt auf den Todeskampf tausender flüchtender Menschen vor Europas Grenzen einzugehen, zeichnete sie somit ein Bild der Gefahr und des Schreckens, welche Europas Bevölkerung drohen würde. Somit zeigt sich klar, wo die Prioritäten der Europäischen Union liegen. 

Insgesamt versprach die Kommissionspräsidentin 700 Millionen Euro als finanzielle Hilfe an Griechenland.[1] Zu den bisherigen 530 Beamt*innen der Europäischen Grenzschutz Agentur Frontex wurden 100 weitere angeheuert. Der Fakt, dass zu diesem Zeitpunkt bereits viele NGOs von der Gewalt und dem gewaltvollen Zurückjagen von Geflüchteten über die Außengrenze berichteten, wurde ignoriert. Gegen wen wehrt sich Europa? Wieso behandeln wir geflüchtete Menschen wie Invasor*innen und Verbrecher*innen?

Die Europäische Union ist auf dem Weg, ihre letzte Glaubwürdigkeit zu verlieren. Eine EU, die als Friedensnobelpreisträgerin und Hüterin der Menschenrechte Griechenland aktiv dabei unterstützt, auf Geflüchtete zu schießen und Rechtsstaatlichkeit außer Acht zu lassen, hat ihre Titel und Ehrungen nicht verdient!

Frontex und die Operation „Poseidon“

Nach den Neueinstellungen seitens der Kommission arbeiten nun über 600 Frontex Beamt*innen aus ganz Europa an der griechischen Grenze. Auf der Webseite der Agentur Frontex heißt es, dass die Operation Poseidon „Griechenland mit der Grenzüberwachung, dem Retten von Menschenleben und der Registrierung von Menschen unterstützt.“ [2]

Frontex ist eine offizielle Agentur der Europäischen Union. Die Aufgaben und Kompetenzen der Agentur sind in der sogenannten Frontex Verordnung geregelt. Frontex betreibt Operationen in verschiedenen europäischen Ländern, die Grenzschutz Operation in Griechenland wird „Poseidon“ genannt. Die Ausführung der Operation Poseidon muss im Einklang mit den Grundrechten geschehen.

Die Realität an der Grenze ist eine komplett andere. Im März 2020 berichtete das Magazin „POLITICO“ über dänische Frontex Beamt*innen, die sich weigerten, 33 gerettete Menschen zurück zu “pushen”, also über die Grenze zurück zu jagen. Das Boot ist Teil der Operation Poseidon. Jens Møller, Chef der dänischen Einheit, erklärte dänischen Medien, dass die Crew eine Anordnung der griechischen „Hellenic Coast Guard“ per Funk erhielt. Sie sollten die Menschen zurück in ihr Segelboot lassen und das nicht seetaugliche Boot aus den griechischen Gewässern vertreiben. Angeblich wurde die Besatzung sogar aufgefordert, Pistolen herauszuziehen und physische Macht anzuwenden. [3] Die Crew verweigerte die Anordnung, die 33 Menschen wurden letztendlich auf die Insel Kos gebracht.

Jens Møller stellte klar, dass seine Besatzung mit Migrant*innenbooten anders umgehen würde, als die griechischen Behörden. Sie wollen sich an die dänischen Richtlinien halten und mit „ihren Beitrag keine Handlungen durchführen, die Menschenleben gefährden würden“. Eindeutig spielt er damit auf die griechische Grenzwache „Hellenic Coast Guard“ an. Denn im März 2020 wurden Videos im Internet veröffentlicht, auf denen zu sehen ist, wie die griechische Küstenwache nah an die nicht seetauglichen Gummiboote voller Geflüchteten segelt, um diese mit starken Wellen am weitersegeln zu hindern und teilweise sogar zum Kentern zu bringen.  Dieses Unterfangen ist nicht nur illegal, es gefährdet Menschenleben!

Doch gegen welche Gesetze verstößt die EU gerade?

Da Frontex eine offizielle Europäische Agentur ist, ist sie bei jeder ihrer Operationen verpflichtet, fundamentale Rechte sowie internationales Asylrecht einzuhalten. Die Juristen Anne Pertsch und Jonas Püschman berichteten darüber in einem Artikel auf „Verfassungsblog“. [4]

Laut Pertsch und Püschmann hält Frontex bei der Operation Poseidon nun aber die eigenen Vorgaben nicht mehr ein, in dem die Agentur gegen unter anderem folgende Artikel europäischer Rechtsrahmen verstößt:

  • Artikel 51 aus dem Grundrechte Charta [5]
    • „Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden.“

Unter diese Organe und Einrichtungen fällt Frontex, da es eine offizielle EU-Agentur ist. Frontex muss sich jedoch als europäische Agentur nicht nur an das Unionsrecht, in welches die Menschenrechte fallen, halten. Sie müssen diese in der Anwendung auch entsprechend aktiv fördern.

Die weiteren Artikel, die Pertsch und Püschman erwähnen, beziehen sich vor allem auf das Menschenrecht der Nichtzurückweisung von Asylsuchenden. Nichtzurückweisung bedeutet, jeder Person eine offizielle Möglichkeit auf einen Asylantrag zu gewähren. Denn jede*r in Europa hat das Recht auf den Zugang zu einem fairen Asylverfahren.
Die geflüchteten Menschen an der griechischen Grenze spüren davon jedoch wenig. Sie werden zurückgejagt und jegliche Möglichkeit, um Asyl anzusuchen, wird ihnen genommen.

Für Frontex ist aber vor allem auch der folgende Artikel essentiell. Dieser besagt, dass Operationen und jede Tätigkeit in diesem Bereich nicht einmal angefangen werden dürfen – oder sofort zurückgezogen werden müssen – wenn sie gegen Grundrechte oder internationale Schutzgesetze verstoßen. Da diese an der griechischen Grenze aber passieren, müsste der zuständige Frontex Direktor die Operation sofort beenden. Mehr noch, sie hätte eigentlich nicht einmal eingeleitet werden dürfen. Dieser Artikel ist einer von mehreren, der in der Frontex Verordnung genau diese Einhaltung der Grundrechte festlegt. Er lautet folgendermaßen:

  • Artikel 46 (4) der Frontex Verordnung
    • „Nach Konsultation des Grundrechtsbeauftragten und Unterrichtung des betroffenen Mitgliedstaats zieht der Exekutivdirektor die Finanzierung jedweder Tätigkeit der Agentur zurück oder setzt jedwede Tätigkeit der Agentur ganz oder teilweise aus oder beendet diese ganz oder teilweise, wenn er der Auffassung ist, dass im Zusammenhang mit der betreffenden Tätigkeit schwerwiegende oder voraussichtlich weiter anhaltende Verstöße gegen Grundrechte oder Verpflichtungen des internationalen Schutzes vorliegen.“

Warum ist die Einhaltung dieser Artikel so wichtig? Eigentlich eine absurde Frage, denn Menschenrechtsverstöße sollten grundsätzlich zu verurteilen sein. Aber um das Ganze noch zu toppen, verstößt die Europäische Union gegen ihr eigenes Recht und ihre Grundprinzipien. Und zwar nicht nur gegen das Grundprinzip der Achtung der Menschenrechte, sondern auch gegen das Grundprinzip der Rechtsstaatlichkeit. Wozu beschließen die Europäische Union und ihre Institutionen Verordnungen und Richtlinien, wenn diese dann von europäischen Agenturen nicht eingehalten werden? 

Zu bedenken ist außerdem eines: Durch die Bestellung dieser Beamt*innen ist die Situation an der Grenze nun keine griechische Problematik mehr. Petsch und Püschmann selbst schreiben in ihrem Artikel, dass das Problem nun ein Europäisches sei. Eigentlich war es das schon immer.

Die Lösung ist eigentlich nicht schwer

Eines ist letztendlich klar: Europa muss sich selbst wieder ernst nehmen. Menschenrechtsverstöße wie die an der griechischen Grenze dürfen nicht länger toleriert werden. Was es jetzt braucht, ist nicht nur ein sofortiger Stopp der Gewalt an der Grenze, sondern ein solidarisches, menschenrechtsbasiertes Asylsystem mit einem fairen Verteilungsmechanismus – und sofortige Hilfe für all die geschwächten, kranken, verletzten und verstörten Menschen, die sich nicht weit von uns in menschenunwürdiger und lebensbedrohlicher Lage befinden. 

In der Verabsäumung dieser Maßnahmen liegt einer der Ursprünge für diese Krise. Es ist eine humanitäre, keine Migrationskrise. Denn die Flüchtlingsbewegungen nach Europa wären mit genügend Verantwortungsbewusstsein leicht bewältigt, jeder Person wäre ein menschenwürdiges und gutes Leben ermöglicht. Schon 2015, als die Fluchtbewegung eine ungleich größere war, machte die Anzahl der geflüchteten Personen nur ein Prozent der Europäischen Bevölkerung aus – hätte sich damals jedes Land bereit erklärt, Menschen aufzunehmen, dann würden wir heute nicht mit überfüllten Lagern an den Außengrenzen zu kämpfen haben. Länder wie Griechenland dürfen zukünftig nicht mehr alleine gelassen werden. Solidarische Koordination und Zusammenhalt müssen uns alle in die Verantwortung ziehen. 


[1] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/statement_20_380

[2] https://frontex.europa.eu/along-eu-borders/main-operations/operation-poseidon-greece-/

[3] Danish boat in Aegean refused order to push back rescued migrants“, Trischler Laurie: https://www.politico.eu/article/danish-frontex-boat-refused-order-to-push-back-rescued-migrants-report/

[4] https://verfassungsblog.de/first-order-then-humanity/

[5] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=uriserv:OJ.C_.2012.326.01.0391.01.DEU&toc=OJ:C:2012:326:FULL


Bild: CC Mission Lifeline