Von der Legende zur Aufforderung zum Handeln. Die Stonewall Riots.

| Sebastian Pay | Leave a Comment

„No Pride for some of us without liberation for all of us”

– dieser Satz stammt von einer der Ikonen der Stonewall Riots: Marsha P. Johnson, jener schwarzen Trans*-Aktivistin und selbstbeschriebenen (Drag) Queen, der oft zugeschrieben wird, an jenem Juniabend im Jahr 1969 den ersten Stein auf die Polizisten in der New Yorker Christopher Street geworfen zu haben. Um den Aufstand in der Nacht von 27. auf den 28. Juni ranken sich bis heute Legenden und gerade in den letzten Jahren wird er immer wieder zum Beginn der Befreiungsbewegung für Schwule, Lesben, Bisexuelle, Trans*- und queere Personen hochgesteigert: Der Moment, in dem sich die Community der Polizei entgegenstellte, als diese einen ihrer wenigen sicheren Häfen in New York angriff. Die Wahrheit hinter dieser Geschichte ist vielschichtiger. Doch was Stonewall war und bleibt, ist ein Meilenstein im Kampf um Akzeptanz und Gerechtigkeit – ein Meilenstein an dessen Folgen wir uns gerade heute stärker erinnern müssen als bisher.

Als Roland Emmerich im Jahr 2015 seinen Film „Stonewall“ präsentierte folgte rasch ein Shitstorm. Zu weich gewaschen war die Produktion und vor allem zu weiß. Ein weißer Cis-Mann warf in Emmerichs Film den ersten Stein und ersetzte damit Personen wie Marsha P. Johnson oder ihre Freundin Silvia Rivera, denen diese Tat oft zugeschrieben wird. People of Color kamen in „Stonewall“ so gut wie gar nicht vor und damit liegt der Film, wie mit vielen anderen Darstellungen, weit weg von der Realität.

Was wir heute wissen, ist dass das Stonewall Inn in der Christopher Street ein heruntergekommenes Mafia-Lokal war. Die von Zeitzeugen oft verspotteten „watered-down drinks“ wurden dort um viel zu teure Preise ausgeschenkt, die Besucher*innen gehörten zur Mittel- oder Oberschicht. Die Mafia bestach die Polizei, um Razzien zu verhindern. Das funktionierte meistens. Gleichzeitig gab’s aber auch viele andere Lokale für diese Community in der Stadt. Und ja, es gab auch Organisationen, die sich schon damals für die Rechte privilegierter, weißer Schwuler und Lesben einsetzten – doch diese hatten nichts mit den Besucher*innen des Stonewall Inns und anderer Bars in der Nähe zu tun. Denn trotz des vermeintlichen Mafia-Schutzes gab es auch in der Christopher Street regelmäßige Razzien. Meistens gingen diese jedoch am frühen Abend über die Bühne, damit die Lokale zur Stoßzeit guten Gewinn machen konnten. Und gefährlich waren sie insbesondere für Trans*-Personen, denn ein New Yorker Gesetz verpflichtet alle Personen, bei Polizeikontrolle mindestens drei Kleidungsstücke zu tragen, die dem biologischen Geschlecht entsprachen.

Spätestens seit das Stonewall Inn von Barack Obama zum nationalen Denkmal erklärt wurde, beschäftigen sich unzählige Historiker*innen mit der Frage, was genau an jenem 27. Juni nun wirklich geschah. Klar ist heute, dass das Lokal und die ganze Christopher Street an diesem Abend besonders gut gefüllt waren. Denn im Laufe des Tages war Judy Garland begraben worden, die vielen in der Community unter anderem wegen ihrer Rolle in „The wizard of Oz“ als Ikone galt. Auf sie wurde vielerorts angestoßen. Als gegen 1:20 Uhr die Polizei mit einer Razzia begann und manche Gäste besonders gewaltsam verhaften wollte, begann schließlich das, was wir heute als die Stonewall Riots kennen. Es ist nicht klar wer den ersten Stein warf – falls es überhaupt einen Stein gab – und wer sich als erste*r der Polizei entgegenstellte. Aber ob es nun ein Pflasterstein war, eine Handtasche, das viel zitiere Kleingeld („Die erste Münze flog und die Revolution begann“) oder das „Shotglas heared around the world“ … was folgte waren zwei Nächte in denen sich die unterdrückte, über Jahrzehnte diskriminierte und ins Abseits gedrängte, von Mafia und Polizei gleichermaßen schikanierte Community dem Staat entgegenstellte, der sie nicht anerkennen wollte. Am Ende der ersten Nacht fanden sich die Polizisten verbarrikadiert in jener Bar wieder, die sie nur Stunden davor leeren wollten. Auf der Straße hatten die Gäste und Verbündete aus der ganzen Stadt die Macht übernommen. In der Nacht darauf wurden die Demonstrant*innen nochmals mehr.

Die Bedeutung, die Stonewall inzwischen für die LGBTIQ-Community weltweit hat, zeigt sich schon an den vielen Legenden, die sich um diese beiden Juninächte ranken. Eine, die von fast allen Zeitzeug*innen bestätigt wird, sind die Kick-Lines der Gäste in der Christopher Street. Viele der Anwesenden zogen dabei tanzenden durch die Straße und verhöhnten die Polizei mit einem selbsterfundenen Song: „We are the Stonewall girls/We wear our hair in curls/We don’t wear underwear/ We show our pubic hair.“

Und auch, wenn es schon lange vor Stonewall viele Versuche gab, ein Momentum für die Rechte von LGBTIQ-Personen in den USA oder auch Europa zu schaffen, so waren diese beiden Juninächte mit Sicherheit der Anstoß einer Bewegung, die nicht mehr aufzuhalten war. Nur wenige Wochen nach den Riots gab es die ersten Proteste, zuerst in New York, später in anderen US-Städten. Im Jahr bis zum ersten Jubiläum der Riots gründeten sich zahlreiche neue Organisationen und Initiativen. Dabei verloren die alten (bürgerlichen und weißen) Verbände, wie die New Yorker Mattachine Society, an Einfluss. Bedeutend wurden radikalere, diversere Gruppe wie die Gay Liberation Front. Auch Support-Gruppen wie die von Marsha P. Johnson gegründeten Street Transvestite Action Revolutionaries (STAR) gewannen Bedeutung.

Zum ersten Jahrestag der Stonewall Riots fanden die ersten Gay Pride Paraden in New York, Los Angeles und Chicago statt. Im Jahr 1971 folgten Städte wie Stockholm, Paris oder Westberlin. Und auch, wenn es in Österreich noch bis 1996 dauern sollte, bis die erste Regenbogenparade durch Wien zog, ist die Bedeutung der Stonewall Riots für die LGBTIQ-Bewegung auch hierzulande nicht zu unterschätzen.

Was wir uns aber gerade heute vor Augen halten müssen, ist worum es bei diesen ersten Paraden ging. Im Zentrum stand nicht nur die Forderung nach Anerkennung der fundamentalen Grundrechte von LGBTIQ-Personen, sondern auch Systemkritik. Viele Aktivist*innen jener Zeit stellten die geltenden Herrschaftsverhältnisse gänzlich in Frage. Heutige Forderungen wie die „Ehe für alle“ waren nicht nur praktisch undenkbar, sondern wurden auch als bürgerlich abgelehnt. Auch wenn diese Bewegung keinen Grund zur Romantisierung gibt und es auch in ihre Probleme mit Rassismus, Sexismus oder Transphobie gab und bis heute gibt, so zeigen uns diese Anfänge doch, wie ein lebendiger, linker Diskurs über Sexualität und Herrschaftsmechanismen aussehen kann. Gerade mit Blick auf heutige PRIDE Paraden, die oft viel zu sehr als Werbefläche für Großkonzerne sind, muss das für uns alle ein Denkanstoß sein. Wie die New Yorker Zeitzeugin Marsha Shelley dem Magazin Siegessäule 2019 erzählte: „Wir sind damals nicht auf die Straße gegangen, um bei einer Pride Parade mitzulaufen, die von den großen Konzernen gesponsert wird.“ Gerade in diesem Sinn ist Stonewall mehr als eine Legende und ein Bezugspunkt für die LGBTIQ-Community: Es muss eine Aufforderung zum Handeln und Weiterkämpfen für alle von uns sein, die für eine gerechtere Welt eintreten.

Bild: CC Vital1na